Sie krabbeln, sie fliegen, und manchmal nerven sie auch: Insekten. Aber Bienen, Schmetterlinge, Käfer, Mücken und Co. sind für uns enorm wichtig, denn sie bestäuben Pflanzen, dienen als Futter für andere Tiere und tragen zum ökologischen Gleichgewicht bei. Dass der Bestand an Insekten seit Jahren dramatisch schrumpft, bemerken nicht nur Gartenbesitzer und Autofahrer. Mit ihrer 2017 veröffentlichten Studie zum Insektensterben sorgten die Forscher des Entomologischen Vereins weltweit für großes Aufsehen. Vorsitzender Thomas Hörren warf mit uns einen Blick auf eine naturwissenschaftliche Sammlung mit Millionen Exponaten. Und machte Hoffnung, dass es auch in Zukunft noch summt und brummt.
Winzige Tiere auf riesiger Fläche: Gut 1.800 Quadratmeter bieten Platz für einen in Krefeld so gut wie unbekannten Schatz der Insektengeschichte. Schon am Telefon hatte Biodiversitätsforscher Thomas Hörren von rund 2,3 Millionen historischen Exponaten gesprochen. Dazu gehören Käfer, Schmetterlinge oder Hummeln, die als Trockenpräparate auf Nadeln gesteckt oder auf Kartonagen geklebt und hinter Glas aufbewahrt werden. Obwohl wir uns in einem Gewerbegebiet befinden, verströmen die Räume des Entomologischen Vereins an der Magdeburger Straße eine angenehme Atmosphäre, die im besten Sinne an Biologieunterricht und Besuche im Naturkundemuseum erinnert. In 25 Meter langen Gängen stehen massive Holzregale in warmen Brauntönen, die Wände sind mit überdimensionalen Grafiken von Insekten und ihren Entdeckern geschmückt, immer wieder erblicken wir gemütliche Möbel und Fundstücke wie vom Flohmarkt.
Würde man die über 7.000 Insektenkästen übereinander stapeln, ergäbe sich mit 420 Metern ein Turm so hoch wie das Empire State Building. Der 34-jährige Wissenschaftler hält bei seiner Führung viele Fakten parat und blickt so sachlich wie stolz auf den 1905 gegründeten Verein: „Gemeinsam mit der Stadt Krefeld besitzen wir eine umfangreiche Spezialbibliothek, zahlreiche technische und optische Geräte, ein Archiv mit kompletten Nachlässen von Insektenforschern und eine einzigartige Nasssammlung mit 100 Millionen Insekten, die in Konservierungsflüssigkeiten aufbewahrt werden.“ Es ist eine unfassbar große Zahl, die weltweit wohl ihresgleichen sucht. Dass der Mammutumzug vom vorherigen Standort noch nicht ganz abgeschlossen ist, verraten Dutzende ordentlich gestapelter Kartons, wie man es von akkurat arbeitenden Wissenschaftlern erwartet. Vor allem aber sehen wir in der unter Denkmalschutz stehenden Sammlung eine beeindruckende Mischung aus Disziplin, Herzblut und immenser Vielfalt.
Letztere ist auch der Grund, warum Thomas Hörren schon als Dreijähriger tief in den Mikrokosmos der Insektenwelt eintauchte. „Ich habe mich früh für alles interessiert, was kreucht und fleucht“, denkt der studierte Biologe, Insektenforscher und Käferexperte lächelnd an seine Anfänge zurück. „Meine Eltern schenkten mir zu Weihnachten ein Insektenbuch, das ich neben den Legobausteinen erst gar nicht wahrnahm. Doch beim Lesen und Ankreuzen der Tiere habe ich Feuer gefangen und begonnen, draußen zu fotografieren und Insekten zu bestimmen.“ Der gebürtige Bergheimer bewegt sich auf einem weiten Feld, denn auf jeden Menschen kommen etwa 1,4 Milliarden Sechsfüßer aus geschätzten 5,5 Millionen unterschiedlichen Arten, wie das ZDF in einer Grafik ausweist. Demnach sind drei Viertel aller in Deutschland heimischen Tiere Insekten in 34.000 unterschiedlichen Arten, darunter 6.500 verschiedene Käfer. Und viele sind vermutlich noch gar nicht erkannt. Für Forscher Hörren ein guter Grund, sich beruflich mit dem Thema Biodiversität zu beschäftigen: „Man muss gar nicht in die Tropen fliegen, um zu entdecken! Unbeschriebene Insektenarten lassen sich auch hier in Deutschland finden.“ Er nennt millimeterkleine Mücken und metallisch glänzende Erzwespen als Beispiel, seine Begeisterung für das breite Spektrum der kleinen Lebewesen springt rasch auf die Besucher über. Da kann ein auf 20 Minuten angelegter Rundgang auch eineinhalb Stunden dauern, ohne dass Langeweile aufkommt. Man hört der ruhigen Stimme einfach gern zu.
Seit Jahrzehnten lässt sich ein weltweiter Trend zum Rückgang von Anzahl und Arten der Insekten feststellen. Autofahrer bemerken vielleicht, dass Windschutzscheibe und Nummernschild sauberer sind als früher, in Gärten und Parks ist es deutlich ruhiger geworden. Doch dass dieser Schwund und seine gravierenden Auswirkungen auf unser Ökosystem stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind, geht auf die kontinuierliche Arbeit des Entomologischen Vereins zurück. In den Vitrinen und Archiven finden sich die Lebenswerke ganzer Generationen von Insektenforschern, der Bestand reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück. 2017 veröffentlichten die Krefelder Entomologen eine Langzeitstudie im Fachjournal „PlosOne“. Seit 1989 hatten sie die Entwicklung von Insektenbeständen in insgesamt 63 Gebieten von NRW, Rheinland-Pfalz und Brandenburg untersucht und dokumentiert. Das Ergebnis: In 27 Jahren hat die Biomasse fliegender Insekten um mehr als 75 Prozent abgenommen. Die Ursachen sind noch unklar, in Frage kommen Klimaveränderungen, intensive Landwirtschaft, Bebauungsmaßnahmen und fehlende Biotope. Die mittlerweile als „Krefelder Studie“ bezeichnete Untersuchung sei über Nacht viral gegangen, berichtet Thomas Hörren. So hätten die New York Times, der Guardian und das Science Magazine darüber berichtet, bevor deutsche Medien das Thema aufgriffen. „Fluch und Segen“ nennt er die plötzliche Aufmerksamkeit: Einige Autoren der Studie mussten sich eine neue Telefonnummer zulegen, es hagelte Auszeichnungen, und nicht nur Hörren ist heute noch als Interviewpartner bei Journalisten beliebt.
Was vielen Menschen nicht bewusst sein dürfte: Die Vereinsmitglieder arbeiten ehrenamtlich und finanzieren die wissenschaftliche Forschung, Beratung und Fortbildung nur aus Fördermitteln und Projekttöpfen, so der Vorsitzende. „30 Stunden pro Woche investiere ich in den Verein, neben meiner freiberuflichen Tätigkeit als Forscher und Autor“, erwähnt er eher beiläufig. Nicht seine Person sei wichtig, sondern allein die Natur. So findet man den leidenschaftlichen Wissenschaftler im sozialen Netzwerk Instagram unter „totholz.thomas“, wo er sich liebevoll dafür einsetzt, Artensterben und Klimawandel gemeinsam zu denken. „Ein naturnaher Garten oder Blühstreifen am Straßenrand? Das reicht nicht. Politisch muss viel mehr passieren, daher setzen wir auf Bildung und Nachwuchsarbeit. Je größer das Wissen, desto größer die Verantwortlichkeit“, erklärt der Experte seine Motivation, junge Menschen für Umweltschutzthemen zu sensibilisieren in einem Europa, das in Zukunft deutlich heißer und nasser sein dürfte. Und er verbreitet Optimismus: „Wir können jetzt noch die Trends setzen. Aber es braucht Personen, die sich einbringen.“ Selbst das Käfer-Tattoo an seinem Hals scheint zustimmend zu nicken.
Wer sich für den Erhalt der Biodiversität engagieren wolle, könne unterschiedliche Wege einschlagen, zählt Thomas Hörren berufliche Optionen auf: in der Forschung, im Naturschutz, bei Behörden oder als Erzieher, Lehrer und Dozent. Auch der mit rund 70 Mitgliedern divers aufgestellte Entomologische Verein ist offen für weitere Ehrenamtler oder Praktikanten. „Biologische Interessen sind nicht zwingend notwendig, es gibt auch viel zu tun in den Archiven oder in der Öffentlichkeitsarbeit.“ Vor elf Jahren ist der Insektenfreund „in Krefeld kleben geblieben“ und setzt sich mit seinen Mitstreitern für die artenreichste Klasse der sogenannten Gliederfüßer ein. Ein kleiner Insektenstich sollte uns wirklich nicht jucken!
Fotos: Felix Burandt